Gianluca Trifilò



Dov’è – Non c’è

︎


2019







Es gibt gesellschaftlich relevante Themen, um die man nicht herum kommt, mit denen man sich beschäftigen müsste und die dennoch tabuisiert werden. Der Journalismus greift diese Themen immer wieder auf und hinter verschlossenen Türen beschäftigen sich Gerichte mit den Fällen oder Ärzte und Psychiater empfangen die Opfer.

Mit Dov’è – Non c’è konfrontiert uns Gianluca Trifilo mit dem Script einer Drogengeschichte, den Aufzeichnungen aus der Arztpraxis über die wöchentlichen Besuche eines Klienten im Entzug. Knapp gefasst zeigt sich davon der Niederschlag vom hoffnungslosen Auf und Ab in den Notizen des Vertrauensarztes, den Bemerkungen der Arztgehilfin und dem persönlichen Einnahme-Protokoll des Betroffenen. Das künstlerische Projekt von Gianluca Trifilo, das sich seit 2014 ernsthaft mit diesem Stoff in verschiedensten Formen auseinandersetzt, dringt hier zum Sprachlichen vor.

In einem Raum, ähnlich abgeschottet wie ein Untersuchungs-Kabinett beim Arzt oder wie eine Zelle, steht man frontal vor einer Wand mit Strichlisten. Namen wie Codein* und Seresta ** lassen ahnen, dass es hier nicht um das Abzählen endlos verstreichender Tage geht, sondern um die pedantisch genaue Selbstkontrolle der täglichen Einnahme der genannten Medikamente. Handgeschriebene Daten bezeichnen einen Zeitraum von 4 Monaten und ein Stempel scheint die Richtigkeit der Angaben zu beglaubigen. Auffällig sind zwei schwarze Balken, offensichtlich geschwärzte Stellen, die einen Namen nicht preisgeben.

Eine weibliche Stimme im Raum macht protokollartige knappe Angaben über das Erscheinen, den Verbleib oder die Befindlichkeit einer Person - erschienen – nicht erschienen – schlaflos – zu spät – Dov’è? Non c’è! - während auf beiden Seitenwänden unter dem Staccato der Klickgeräusche des Diawechsels, fachliche Aufzeichnungen einer Autorität zum Verlauf der Krankengeschichte, Dosierungen von Medikamenten und vertrauliche Briefe mit Einschätzungen zur Lage erscheinen. Hier und dort werden diese plötzlich ausgeblendet von weissem Licht, das aus leeren Projektionen stammt, aber auch von phantasievollen Zeichnungen, auf denen ein geübter Graffitileser den Namen Marco entziffern kann, oder – Grüsse aus dem Knast – Born to lo(o)se, Life to win – Tiger – Grüsse aus Barcelona…

Welten treffen hier in einem kleinenRaum aufeinander, Träume und Disziplin, unerfüllte Erwartungen und Kontrolle, Fröhlichkeit, Sorge und Abgründe… Drei Protagonisten: Marco ist instabil – um ihn dreht sich alles, er unterzieht sich der Kontrolle, entweicht ihr und träumt von Stärke, einem besseren Leben und weiss, dass er verliert. Die Autorität erscheint verbürgt – sie benennt alles, trifft Entscheidungen, gibt Anweisungen und interpretiert die Vorfälle. Die Assistentin äussert sich wertfrei – sie vermittelt zwischen Erscheinen und Absenz.

Obwohl hier sehr vertrauliche Inhalte, die sonst unter Ausschluss jeder Öffentlichkeit geschehen, gehört und gezeigt werden, gibt es keinen Voyeurismus. Trifilo gelingt es, dieses heikle (schwierige) und zum Teil schmerzliche Material, das aus seinem familiären Zusammenhang stammt, zu befreien und produktiv werden zu lassen.

Er tut dies, indem er zerstückelt, wiederholt und damit einer ausschliesslichen Zuordnung entzieht. Es gibt keine lückenlose Abfolge von Einsichten in eine Geschichte der man folgen könnte. Eher treten die Textfragmente und Bilder wie Splitter auf, denen etwas fehlt, wie Worte in einem gestammelten Satz, der nach neuen Bedeutungen sucht. - Das Aufeinandertreffen von protokollartigen Sequenzen und eingeblendetem weissem Licht, wird immer wieder von einer warmen weiblichen Stimme durchquert, die eine Art Brücke bildet zu den hin und wieder aufleuchtenden Zeichnungen. Der Betrachter kann sich in ein feldartiges Gefüge aus Worten und Bildern begeben, das ihm erlaubt in Beziehung zu treten zu einem abwesenden Marco.

Wahrscheinlich geht es hier nicht einfach um den spezifischen Fall eines Menschen der Hilfe suchte, der mit medizinischen Mitteln begleitet wurde und der vor allem auf die verlässliche Anwesenheit des Arztes zählen durfte - sondern vor allem um den schwer auszulotenden Graben zwischen Anwesenheit und Abwesenheit.

Paul Virilio spricht in seinem Buch „Die Ästhetik des Verschwindens“ vom Pyknoleptiker, dessen Anfall sich als eine unvermittelte , sekundenlange oft sich wiederholende Absence zeigt, ein Wechsel zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Bei der …“Unregelmässigkeit des pyknoleptischen Aussetzens,… handelt es sich schlicht und einfach um Unterbrechung… um tatsächliches Verschwinden und wieder Auftauchen des Wirklichen, um Loslösung von Dauer.“1 Virilio glaubt, dass wir alle hin und wieder zum Pyknoleptiker werden, dem aber keine Bedeutung beimessen.

Dieses könnten wir im Auge behalten, wenn wir uns im Staccato der auftauchenden Protokolle, den blendenden Aussetzern und den aufleuchtenden Bildern befinden. Marco war behender Grenzgänger zwischen verschiedenen Welten, zwischen Traum und Ende des Traums, zwischen Disziplin und Verlassen der Kontrolle, zwischen Versprechen und es nicht halten können. Seine Strichlisten und Zeichnungen sprechen vom dauernden Wechsel der unterschiedlichen Zustände und der grossen Spannung, der er ausgesetzt war, deren Opfer er schliesslich geworden ist.

In jedem von uns kommen und gehen gewisse Rhythmen in Verbindung mit starken und schwachen Zeiten auf erlebte Dinge. 2 Das Geflecht von Materialien, geht auf die Lebensgeschichte von Gianluca Trifilos Bruder zurück. Sie lässt uns die Zwischenräume von Widersprüchen erleben, die metaphorisch unsere eigenen sein könnten. Die Ansprüche der heutigen Gesellschaft an den Menschen sind gross und sie erfüllen zu wollen, erfüllen zu müssen, ist oft in eine Überforderung. Abwesenheit und Anwesenheit in eigener Regie führen zu können oder Zustände des fliessenden Geschehens und des Aussetzens zuzulassen, wäre die Kunst ganz bei sich zu sein aber ebenso, es zuzulassen sich abhanden zu kommen, ohne Opfer zu werden.